Donnerstag, 26. Januar 2012
Oscar-Nominierungen 2012
Liebeserklärung an die gute alte Zeit
Elf Nominierungen für Martin Scorseses "Hugo", zehn für "The Artist": Die Oscar-Nominierungen 2012 werden von Filmen dominiert, die in den Anfangstagen des Kinos schwelgen. Zu den Verlierern dieser Saison werden realistische, politische Dramen zählen - und George Clooney.



Vor dem Zeitgeist ist nichts und niemand gefeit, am wenigsten Hollywood. In der Popmusik werden gerade vergangene Jahrzehnte von den Sechzigern bis zu den Achtzigern gefeiert, im Fernsehen leben via "Mad Men" die Fifties wieder auf - und das Kino geht gleich ganz weit zurück in der Zeit, an seinen Ursprung, den Stummfilm.

Vor rund hundert Jahren erlebte Hollywood mit Filmen wie D.W. Griffiths "Birth of a Nation" seinen Aufstieg zur Fabrik der Träume und des Glamours, und vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt, nahe an diesem Jubiläum, bei vielen Filmemachern eine Rückbesinnung einsetzt. Gleich zwei Filme, die in dieser Oscar-Saison zu den absoluten Favoriten zählen, beschäftigten sich mit der Zeit, in der die Bilder erst laufen und dann sprechen lernten.

Martin Scorseses Film "Hugo" handelt von einem kleinen Jungen, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts im Pariser Hauptbahnhof lebt: Es ist die Zeit des großen technischen Aufbruchs, und Hugo Cabret macht staunend Bekanntschaft mit einem der großen frühen Illusionisten und Pionieren des Kinos, dem Regisseur und Erfinder George Méliès, berühmt für seinen Science-Fiction-Klassiker "Le voyage dans la lune" ("Die Reise zum Mond") von 1902. Und weil Scorsese weiß, dass wir uns 100 Jahre später erneut in einer Phase technischer Umwälzungen befinden, drehte er sein wundervolles, farbenprächtiges Kinomärchen in 3D - eine Verbeugung vor der Innovationskraft des Kinos, die immer neue Wege findet, die Realität auf die Leinwand zu bannen - und sie durch Phantasien zu bereichern. Elf Nominierungen erhielt "Hugo" am Dienstag von den Mitgliedern der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, darunter Nennungen als bester Film und für die beste Regie sowie in allen wichtigen technischen Kategorien.



Mit einer Nominierung weniger geht der eigentliche Favorit dieser Oscar-Saison ins Rennen um die Academy Awards: "The Artist", ein in Schwarzweiß gedrehter Stummfilm des französischen Regisseurs Michel Hazanavicious, erzählt die Geschichte eines Stummfilm-Darstellers, der nicht wahrhaben will, dass der Tonfilm seine Kunst überflüssig machen wird. Der unter anderem in Cannes und bei den Golden Globes gefeierte Film zelebriert die universelle Kraft des Kinos, mit Gegenständen, Gesten und Musik Geschichten zu erzählen, die auf der ganzen Welt verstanden werden - eine künstlerische Glanzleistung, die einen darüber nachdenken lässt, ob es wirklich nötig ist, 200 Millionen Dollar teure 3-D-Blockbuster ins Kino zu hieven, wenn so viel weniger so viel effektiver sein kann.

Sollte "The Artist" als bester Film aus der Oscar-Verleihung am 26. Februar hervorgehen, wäre er der erste Schwarzweiß- und Stummfilm seit über 80 Jahren, der diese Hollywood-Trophäe gewinnt. Mal ganz abgesehen davon, dass es sich um eine französische Produktion handelt. Aber wer merkt das schon? Es wird ja nicht gesprochen in "The Artist".

Mit in die Reihe der großen Vergangenheitsschwelgereien, die das Feld der Nominierungen dominieren, gehört auch Woody Allens Nostalgietrip "Midnight in Paris", der zwar nur drei Nominierungen ergattern konnte, dafür aber in drei der wichtigsten Kategorien: Bester Film, Regie und Bestes Drehbuch. Und auch das Südstaatendrama "The Help", das eine zuckrige Erbauungsgeschichte über die Rassentrennung in den sechziger Jahren erzählt, konnte eine Nominierung als bester Film sowie drei Nennungen in den Schauspielerinnen-Kategorien erobern.



Letztlich gehört auch Bennett Millers Baseball-Drama "Moneyball", sechsmal nominiert, unter anderem in den wichtigen Sektionen Bester Film, bester Hauptdarsteller und bestes adaptiertes Drehbuch, in diese Kategorie - immerhin zelebriert die Trainer-Heldensaga mit Brad Pitt eine überkommene Version des US-Volkssports, die noch nicht von Zahlenspielen und Millionensummen dominiert wurde, sondern von Sportsgeist und Bauchgefühl.

Verlierer? Clooney, Polit-Dramen, das echte Leben

So weit, so rührselig. Welche Filme treten als Gegengewicht zu dieser Nostalgie-Übermacht an? Vielleicht Alexander Paynes im Vorwege stark favorisiertes Familiendrama "The Descendants", das mit nur fünf Nominierungen jedoch arg geschwächt in den Wettbewerb geht. Dennoch kann sich die durchaus heutige und mit sehr realen Nöten auf dem Inselparadies Hawaii befasste Bestsellerverfilmung noch Hoffnungen auf den Titel Bester Film machen, ebenso darf sich Regisseur Payne Chancen auf einen Oscar ausrechnen. Für sein Weintrinker-Drama "Sideways" war er 2004 schon einmal nominiert, gewann damals aber nur den Drehbuch-Preis.

Die Hauptrolle in "The Descendants" spielt George Clooney mit der vielleicht besten Leistung seiner bisherigen Karriere. Es ist die dritte Hauptrollen-Nominierung des Oscargewinners als bester Nebendarsteller (2005 für "Syriana"), man könnte also sagen, George wäre diesmal dran. Die Konkurrenz in dieser Kategorie ist jedoch sehr stark. Unter anderem muss es Clooney mit seinem Busenfreund Brad Pitt ("Moneyball") aufnehmen, aber auch Jean Dujardin ("The Artist"), wenn nicht sogar Veteran Gary Oldman ("Tinker Tailor Soldier Spy") haben gute Chancen zu gewinnen.



Vor allem Clooney könnte also in diesem Jahr zu den großen Verlierern der Oscar-Saison zählen, denn sein ambitioniertes Polit-Drama "The Ides of March", bei dem er eine der Hauptrollen spielt und Regie führte, bekam nur eine Nominierung für das beste adaptierte Drehbuch. Das ist nicht nur für Clooney eine Schlappe, sondern auch für den hochfavorisierten Hauptdarsteller Ryan Gosling, der weder für "The Ides Of March" noch für seine Hauptrolle im Pulp-Actionfilm "Drive" eine Nominierung bekam.

Leer ging auch Schauspieler Michael Fassbender aus, ebenfalls als großer Favorit gehandelt, nun aber weder für seine eindrückliche Rolle als sexsüchtiger Großstädter in "Shame" noch als verklemmter Psychiater in "Eine dunkle Begierde" nominiert. Mit Fassbender und Gosling muss man rechnen, sie gehören zu den spannendsten Talenten ihrer Generation, auf Hollywoods Ehren müssen die Newcomer jedoch noch etwas länger warten.

Und was ist mit Eastwood?

Was ist sonst noch beachtenswert bei den Nominierungen für die 84. Academy Awards? Bei den weiblichen Hauptdarstellerinnen könnte es zum Showdown zwischen der Oscar-Veteranin Meryl Streep (Margaret Thatcher in "The Iron Lady"), Charaktermimin Glenn Close (spielt einen Mann in "Albert Nobbs") und Rooney Mara (spielt Lisbeth Salander in "Verblendung") kommen. Gegen Schwergewichte wie Streep und Close hat Newcomerin Mara jedoch wenig Chancen.



Bei den besten Nebendarstellern gilt Altstar Christopher Plummer für seine Rolle in "Beginners" als Top-Favorit, bei den Nebendarstellerinnen dürfte die Entscheidung zwischen Newcomerin Bérénice Bejo ("The Artist"), Janet McTeer (spielt ebenfalls einen Mann in "Albert Nobbs") und Jessica Chastain ("The Help") fallen, wobei letztere kurioserweise nicht für ihre weitaus stärkere Performance in Terrence Malicks "The Tree Of Life" nominiert ist.

Malicks in Cannes bejubelte, sehr opulente Geschichte der Menschlichkeit konnte immerhin drei Nominierungen ergattern, darunter als bester Film und für die beste Kamera. Um groß zu gewinnen, ist das Meisterwerk des Hollywood-Außenseiters jedoch zu kunstsinnig, ebenso übrigens wie die hochkonzentrierte, extrem elegante John-Le-Carré-Verfilmung "Tinker Tailor Soldier Spy", die ebenfalls nur drei Nominierungen erhielt.

So wird Malick wohl auch in der Regie-Kategorie leer ausgehen. Größere Chancen haben dort Martin Scorsese, Woody Allen, Alexander Payne und wahrscheinlich sogar Michel Hazanavicious, je nachdem, welcher Film den Durchmarsch macht, je nachdem, wer am Ende als bester Film ausgezeichnet wird oder noch einen Trostpreis braucht. Den hat auf jeden Fall schon mal Altmeister Clint Eastwood verdient, dessen feinsinniges FBI-Panorama "J. Edgar" komplett leer ausging. Noch nicht einmal Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio konnte eine Nominierung erringen. Ebenso wenig wie das auf diversen Festivals gefeierte Drama "Take Shelter", das sich mit diffusen Zukunftsängsten beschäftigt.

Aber auch das ist symptomatisch für diesen Oscar-Jahrgang: Konflikte, Politik, das echte Leben, all das muss beiseite treten, wenn Hollywood sich selbst und seine goldene Vergangenheit feiert.
Quelle: www.spiegel.de




Bester Film

"The Artist"
"The Descendants"
"Extremely Loud & Incredibly Close"
"The Help"
"Hugo"
"Midnight in Paris"
"Moneyball"
"The Tree of Life"
"War Horse"

Beste männliche Hauptrolle

Demián Bichir in "A Better Life"
George Clooney in "The Descendants"
Jean Dujardin in "The Artist"
Gary Oldman in "Tinker Tailor Soldier Spy"
Brad Pitt in "Moneyball"

Beste weibliche Hauptrolle

Glenn Close in "Albert Nobbs"
Viola Davis in "The Help"
Rooney Mara in "The Girl with the Dragon Tattoo"
Meryl Streep in "The Iron Lady"
Michelle Williams in "My Week with Marilyn"

Beste männliche Nebenrolle

Kenneth Branagh in "My Week with Marilyn"
Jonah Hill in "Moneyball"
Nick Nolte in "Warrior"
Christopher Plummer in "Beginners"
Max von Sydow in "Extremely Loud & Incredibly Close"

Beste weibliche Nebenrolle

Bérénice Bejo in "The Artist"
Jessica Chastain in "The Help"
Melissa McCarthy in "Bridesmaids"
Janet McTeer in "Albert Nobbs"
Octavia Spencer in "The Help"

Beste Regie

"The Artist", Michel Hazanavicius
"The Descendants", Alexander Payne
"Hugo", Martin Scorsese
"Midnight in Paris", Woody Allen
"The Tree of Life", Terrence Malick

Bestes Original-Drehbuch

"The Artist", Michel Hazanavicius
"Bridesmaids", Annie Mumolo & Kristen Wiig
"Margin Call", J.C. Chandor
"Midnight in Paris", Woody Allen
"A Separation", Asghar Farhadi

Bestes adaptiertes Drehbuch

"The Descendants", Alexander Payne und Nat Faxon & Jim Rash
"Hugo", John Logan
"The Ides of March", George Clooney & Grant Heslov und Beau Willimon
"Moneyball", Steven Zaillian und Aaron Sorkin, Geschichte von Stan Chervin
"Tinker Tailor Soldier Spy", Bridget O'Connor & Peter Straughan

Bester Animationsfilm

"A Cat in Paris", Alain Gagnol und Jean-Loup Felicioli
"Chico & Rita", Fernando Trueba und Javier Mariscal
"Kung Fu Panda 2", Jennifer Yuh Nelson
"Puss in Boots", Chris Miller
"Rango", Gore Verbinski

Bester fremdsprachiger Film

"Bullhead", Belgien
"Footnote", Israel
"In Darkness", Polen
"Monsieur Lazhar", Kanada
"A Separation", Iran

Bester Dokumentarfilm (Langform)

"Hell and Back Again", Danfung Dennis und Mike Lerner
"If a Tree Falls: A Story of the Earth Liberation Front", Marshall Curry und Sam Cullman
"Paradise Lost 3: Purgatory", Joe Berlinger und Bruce Sinofsky
"Pina", Wim Wenders und Gian-Piero Ringel
"Undefeated", TJ Martin, Dan Lindsay und Richard Middlemas

Bester Kurzfilm (Live Action)

"Pentecost", Peter McDonald und Eimear O'Kane
"Raju", Max Zähle und Stefan Gieren
"The Shore", Terry George und Oorlagh George
"Time Freak", Andrew Bowler und Gigi Causey
"Tuba Atlantic", Hallvar Witzø


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